Man hatte mir gesagt, das Kind, das ich nun kennenlernen würde, wäre „schwierig“. Wenn ich dieses Wort höre, werde ich sehr unruhig, weil ich weiß, dass das Wort wie ein Fallbeil wirken kann auf eine Kinderseele. Ich galt auch als „schwierig“. Und ich werde heute noch zornig, wenn ich ein solches Urteil höre, weil meist die Erwachsenen „schwierig“ sind und nicht die Kinder.
Man hätte „alles versucht“, wurde mir gesagt, es sei „der letzte Versuch“, wurde mir gesagt – und „wenn es nichts wird“, dann sei es halt so, dann könne man halt nichts machen.
Ach du meine Güte – was mag da wohl auf mich zukommen?
Kennenlernen also.
Da steht zunächst mal ein freundlich lächelndes Kind in der Tür.
Wir beginnen mit einem fröhlichen „Hallo“ und einem längeren Händedruck, das Kind schaut ganz verwundert, daß ich es nicht gleich loslasse, sondern stattdessen anschaue.
Dann setzen wir uns. Ein Lesebuch liegt auch auf dem Tisch – „das lesen wir gerade“ hatte die Lehrerin noch gemeint, dann hat sie uns beide alleine gelassen. Die Tür ist fest zu und das ist auch gut so, denn ich habe mir vorgenommen, erst einmal sehr aufmerksam und wach dem Kind zuzuhören, denn wenn ein Kind als „schwierig“ gilt, dann hat es meist mindestens einen sehr guten Grund dafür.
Und was ist? Gleich ganz oben auf der Seele, wir sitzen noch keine fünf Minuten beieinander, liegt da der schwere Satz:
„meine Eltern wollen sich trennen“.
Ach, Mist. Das Kind weiß nicht, wohin mit sich. Weiß nicht, was nun werden soll, weiß nicht, wohin es gehört. Das ist in der Tat „schwierig“. Das Kind zeigt wie ein Seismograph, was los ist in der Familie.
Die Lage ist „schwierig“, nicht das Kind.
Ich frage nach, will mir ein Bild machen, in was für einer Welt das Kind lebt. „Erzählst Du mir was von deinem Papa?“ Ja klar, ganz offen, freundlich, überhaupt nicht „schwierig“, offen eben, erzählt mir das Kind, wie es den Papa erlebt. Von Mama erzählt es auch und von den Geschwistern. Die sind älter. „Mama ist immer weg“ höre ich aus den Sätzen heraus und ich höre „die Geschwister haben auch keine Zeit.“
„Du bist oft allein“ fasse ich zusammen. „Ja“ sagt das Kind.
Und dann kommt ein ganz offener Satz auf mich zu, der mich beinahe umwirft wegen seiner Ehrlichkeit, wir kennen uns ja kaum:
„Willst Du wissen, wie lange ich schon alleine bin?“ fragt mich das Kind.
„Seit vier Jahren!“
Da also liegt der Hase beerdigt.
Von wegen „schwierig“.
Das Kind ist in seelischer Not, weil die Erwachsenen nicht klar kommen.
Gelesen haben wir nix in dieser ersten Stunde.
Aber wir haben uns verabredet.
„Schon nächsten Dienstag?“ freut sich das Kind.
„Ja klar, schon nächsten Dienstag! Machs gut! Bis dann!“
„Machs auch gut!“
Und raus ist das Kind. Es wird wiederkommen.
Das ist schon mal ein Anfang. Wir haben uns verabredet. Wir wollen einen Weg zusammen gehen. Ich bin neugierig, wohin er uns führt. Eins weiß ich schon sehr genau, weil ich es fühlen kann: ich werde dieses Kind verteidigen und versuchen, es in Schutz zu nehmen, so gut es geht, wenn irgendwer meint, es sei „schwierig“.