Lesen lernen (6). Sagen, was ist

Lesen lernen (6). Sagen, was ist

Pausengespräch mit einem jungen Grundschullehrer. Wir hatten uns in der Vorwoche schon gut über Methoden der Leseförderung unterhalten, heute knüpfe ich an: „Und, wie gehts bei Ihnen, alles in Ordnung?“ frage ich. „Wir haben heute einen Vergleichstest geschrieben“ erzählt er, „da wird geprüft, was die Kinder im Jahrgang eigentlich können müssten und was sie tatsächlich können und wir Lehrer bekommen ins Zeugnis geschrieben, was wir den Kindern wieder mal noch nicht beigebracht haben. Aber wir schaffen einfach nicht alles. Das ist die bittere Wahrheit.“
„Wenn ich Sie mal offen fragen darf: hier fehlen KollegInnen an der Schule, der Eindruck täuscht mich doch nicht?“
„Etwa 20 KollegInnen fehlen. Zum „Ausgleich“ aber gehen etwa 17 demnächst in den Ruhestand oder an eine andere Schule. Und damit wir nicht übermütig werden, sollen wir im kommenden Jahr statt 4 sogar 5 Erste Klassen übernehmen. Wenn Sie wissen, wie das gehen soll, bekommen Sie den Nobelpreis“ sagt er und lächelt etwas müde.
„Ich kann ungefähr nachempfinden, wie sich das anfühlt – Sie müssen alles irgendwie versuchen, damit Sie nicht untergehen“ sage ich. Die Kinder sind gestresst und nicht selten überfordert, nicht wenige kommen aus nicht einfachen familiären Verhältnissen. Manche schieben gar ihre Kinder „in die Schule“ ab, „da sollen sich die Lehrer mal drum kümmern“ und die LehrerInnen wiederum haben auch nur eine Kraft zur Verfügung, der Krankenstand ist hoch.“
„Ja, meint er, ungefähr so fühlt sich das für die KollegInnen an. Unsere Möglichkeiten reichen vorn und hinten nicht. Eigentlich bräuchten mindestens 10% unserer SchülerInnen eine gezielte Förderung, wahrscheinlich sind es sogar mehr – aber das schaffen wir schlicht nicht mehr. Deshalb ist es ja so wichtig, daß wir von den Lesepaten ein wenig Entlastung erfahren und vor allem die Kinder die individuelle Förderung und Unterstützung bekommen, die sie unbedingt nötig haben.“

Ich gehe nachdenklich nach Hause an diesem Dienstag, meinem „Lesepaten-Tag“, den ich nun schon seit einigen Wochen bei den Berliner Lesepaten absolviere. Und mir gehen jene Schreihälse durch den Sinn, die auf irgendwelchen seltsamen Demos „das Abendland retten“ wollen, aber nichts konkret dafür tun, das „Abendland“ zu retten – Eine Lesepatenschaft, das wäre sinnvoll.

Bei Instagram gibts die #lesepaten und auch die #berlinerlesepaten, auch zeigt sich der eine oder die andere bereits bei facebook. Was wir aber bräuchten, wäre eine deutlich bessere Internetpräsenz der Menschen, die sich als Lesepaten engagieren – denn wir brauchen dringend viele weitere Verbündete. In Berlin sind wir im Moment ca. 2500 Paten an etwa 300 Schulen, das genügt aber bei weitem nicht. Weshalb ich davon erzähle, wie es zugeht da draußen in der Welt der Kinder, wo man lesen und schreiben lernen soll.

In jedem Bundesland gibt es #Lesepaten. Am einfachsten sucht man zunächst „Bundesland“ plus „Lesepaten“ – dann wird man schnell fündig. In Berlin geht’s über folgenden Link weiter. Ich kann aus eigener sehr guter Erfahrung sagen: der Kontakt ging sehr schnell, sehr kompetent, das Polizeiliche Führungszeugnis war schnell da und auch bezahlt (die Paten bekommen die paar Euro erstattet) und dann gabs zeitgleich die ersten Vorschläge, welche Schule in der Nähe des Wohnortes wohl in Frage käme – und dann war schon der erste Kontaktbesuch dran. Innerhalb von vier Wochen von der ersten Mail an die Berliner Lesepaten war in meinem Falle die Sache „in Sack und Tüten“, wie man so sagt. Ich kann also nur empfehlen, den Kontakt zu suchen und aufzunehmen, man wird bestens unterstützt, damit man dann selbst andere unterstützen kann.

Peter Reuter und Jürgen Fiege. Eine Begegnung

Peter Reuter und Jürgen Fiege. Eine Begegnung

Den Peter Reuter hatte ich vor langen Jahren einmal in die Uckermark zu einer Lesung in den Gutshof Wilsickow eingeladen und erinnere mich noch genau, wie er da vor der Lesung unter den Rosen saß und an seinem Pfeifchen schmauchte. Die Lesung dann im gemütlichen Café gleich nebenan habe ich als „urgemütlich“ in Erinnerung. Seither sind wir im Kontakt, verfolgen unsere Lebenswege, nehmen unsere Arbeiten wahr, sind so eine Art Weg-Gefährten geworden.

Und den Jürgen Fiege, Grafiker seines Zeichens, den kenne ich nun auch schon lange, weil er dermaleinst vor langen Jahren eine schöne Grafik entworfen hat für unser Gartenprojekt, den „Rosengarten Hetzdorf“ in der Uckermark, der schnell sehr weit bekannt wurde, weil wir im Internet viel davon erzählt haben. Persönlich haben wir uns leider bislang noch nicht getroffen, der Jürgen Fiege und ich – aber seine Arbeiten – seine vom ZEN beeinflussten ein-, zwei- vielleicht auch mal dreifarbigen Grafiken, die gefallen mir immer noch. „Tuschespuren“ nennt er das, was er da aufs Papier bringt.

Nun haben die beiden zueinander gefunden und zwei neue Bücher vorgelegt. Der Peter hat geschrieben, der Jürgen hat getuscht. Herausgekommen sind „MU – und andere Geräusche“ (Oktober 2023) und „Reagenzpapier“ (März 2023), beide im Kulturmaschinenverlag Hamburg. Peter Reuter sinnt den Worten nach, die ihm „begegnen“, wie er sagt, die also auf ihn zukommen, in seiner Phantasie auftauchen und sich ihm zeigen und bedacht sein wollen – und Jürgen Fiege erzählt diese Begegnungen auf seine Weise weiter. Es handelt sich also um eine Art Dialog zwischen Wort und Bild. Der Leser wird sofort gefragt: Und du? Was steuerst Du bei? Einen Einfall vielleicht?

Eindrücke kann ich beisteuern. Ich finde, man muß mit „Reagenzpapier“ von hinten anfangen, um sich dem Peter Reuter als Person zu nähern, denn im Kapitel „Von dem, was Leben wirklich ist“ – da wird er als Person erkennbar, da zeigt er sich auf eine verblüffend und auch überraschend klare Weise, da gibt es „wichtige Texte“ zu lesen: vom Verstehen des eigenen Lebens als Teil der großen Natur; vom Singen; vom Geschenk der Rückbesinnung auf das, was gewesen ist und als Schatz bedacht werden will. Der Peter versteckt sich nämlich gerne hinter seinen Kurztexten, die man vielleicht auch als Miniaturen bezeichnen könnte, wie er selber sagt. Satirisch, manchmal sehr komisch (wunderbar der Text über Klaus Kinski im „Mu“), im Stil sicher erkennbar kommt er daher, aber man fragt sich, wenn man nicht mit dem „Reagenzpapier“ im letzten Kapitel beginnt, wer denn der Peter als Person so sein könnte?
Mein Eindruck ist: der tänzelt uns was vor. Wie einer vom Zirkus. „Denkt euch was ihr wollt“ lacht er und tanzt weiter. Tuscht Texte aufs Papier, schnelle Einfälle, im Notizbuch Festgehaltenes. Wie so ein Seismograf auf zwei Beinen steht er da in seinem Garten und schmaucht an seinem Pfeifchen und hält die Worte fest, die auf ihn zukommen und die ihm das Leben sind. Anregend sind diese Miniaturen allemal, am Ende schlägt er nicht selten noch einen Haken, so daß man sich verdutzt fragt, ob man grad den richtigen Text gelesen hat? Und dann, ganz unvermittelt, plötzlich steht da so ein Granit-Text wie das „Gebet der Vereinten Nationen“, das man sich „durchaus unmittelbar“ und „mehr als sofort“, wie Peter schreiben würde, hinter den Spiegel stecken kann.

Peter Reuter denkt den Worten nach und Jürgen Fiege tuscht die Fortsetzungen dazu. Mir fällt mein Lehrer Klaus-Peter Hertzsch ein, der uns in einer seiner überfüllten Vorlesungen beibrachte: „unsere Sprache ist älter als wir. Sie enthält Erfahrungen, die wir als Personen vollumfänglich nicht selbst gemacht haben, sie ist reicher als unsere persönlichen Erfahrungen sind, vielleicht ist sie gar weiser als wir selbst – es ist daher lohnend, den Worten nachzudenken, die unsere Sprache für uns bereit hält. Wir werden reicher dadurch.“

Wir sind also in guter Gesellschaft, wenn wir uns dem anschließen, was die beiden da vorlegen. Dabei scheuen sie die „großen Worte“ keineswegs, da geht es auch um „Frieden“, auch um „Gerechtigkeit“, um großartige Sachverhalte also, aber meist sind es die scheinbar kleinen Alltäglichkeiten, die ein Geheimnis in sich tragen, das erzählt werden will. Der guckt ja sehr genau hin, der Peter Reuter, was da in den Worten steckt und dann schreibt er los – und schon schlägt er wieder einen Haken und lacht hinter der Hecke.

Für mich war eben wegen dieser Beobachtung am Text die Reihenfolge beider Bücher interessant, in der sie erschienen sind, denn Reuter nimmt sich ja selber gern auf die Schippe, wie man so sagt, verflüchtigt sozusagen das, was er gerade aufgeschrieben hat. Und so ist es auch bei den beiden Büchern: erst kam „Reagenzpapier“ im März 2023, mit den „großen Worten“, die bedacht sein wollen und mit dem starken Schlusskapitel „Von dem, was Leben wirklich ist“ – und danach kam „Mu und andere Geräusche“. Da werden die Texte noch kürzer, noch minutiöser, wenn es soetwas bei Texten gibt – da verflüchtigt sich jemand, so ist mein Eindruck, da versteckt er sich wieder, der Peter Reuter und sitzt im Garten unter seiner Buche, die er eines Tages umarmen wird, wie er aufgeschrieben hat und wundert sich über die Welt, die so großartig ist.

Was ich sagen will? Die beiden arbeiten ausgezeichnet zusammen, ergänzen sich prima und ich will beide Bücher dem an Literatur interessierten Menschen (sowas gibts noch trotz alledem und alledem) ans Herz legen. Es ist keine „schnelle Lektüre“, die man mal so runterliest, denn die Sachen, die da geschrieben und gezeichnet sind, wollen erschlossen sein. Aber wenn man von hinten her die Sache aufrollt, dann stehen da plötzlich zwei in die Jahre gekommene fröhliche Herren im Garten, die einem etwas mitzuteilen haben vom Leben und von dem Weg, auf dem Leben gelingen kann. Es lohnt, sie zu besuchen.

Den Peter Reuter findet man zum Beispiel hier. Und der Jürgen Fiege ist auch nicht weit.

Lesen lernen (5) Eltern sind nicht zu ersetzen

Lesen lernen (5) Eltern sind nicht zu ersetzen

Die Kinder waren pünktlich. Sie kennen ja nun den Weg vom Klassenzimmer zum Zimmer, in dem Lesen geübt wird. Die Stunde ist nicht lang, dennoch brauchen wir einen häufigen Wechsel zwischen Zuhören, Schreiben, Malen, Lesen, Aufsagen, nochmal Üben. Heute haben wir uns mit „Äu“, „Eu“, „Ei“, „Au“ beschäftigt. Zwei Buchstaben, die aber wie ein Laut klingen. Die Hürde beim Lesen ist ja nicht zu übersehen. Es lautet nicht: „da gehen Le-ute auf der Straße“, sondern eben: „da gehen Leute auf der Straße“. Zwei Buchstaben, aber ein Laut. Wie in „Laut“. Das muss man ja erstmal kapiert haben. Es gibt viele solcher Worte, die man zunächst mal suchen kann. Dann kann man sie schreiben – ah ja, siehste, da sieht man ja gleich, wo der Haken hängt. Also nochmal. Und nochmal. Und beim dritten Mal gehts schon besser.

Zwischendurch gibts ne Kurzgeschichte, das Kind kann dabei malen, wenn es möchte und es möchte bislang immer. Dann gehts wieder weiter mit den Worten und den Lauten. Repetitio mater studiorum est – die Wiederholung ist die Mutter der Porzellankiste, nicht wahr.

Die Kurzgeschichte handelte von einer Schulfreundin, deren Mutter beim Lesen half. Und das Kind aus der Geschichte wurde von der Schulfreundin mit nach Hause genommen, damit sie beide gemeinsam üben konnten. Mit der eigenen Mutter konnte das Kind nicht lesen üben, denn die Mutter war nicht zu Hause, sondern mußte Geld verdienen und das Schulkind konnte sich nicht konzentrieren, weil der Vater zu Hause vor dem Fernseher saß und die Geschwister laut spielten, es war halt schwierig. Und deshalb war es schön, daß die Schulfreundin das Kind mit zu sich nach Hause nahm – dort konnte in Ruhe geübt werden.

„Hast Du auch jemanden, der mit Dir zu Hause übt?“ frage ich nach der Geschichte. „Meine Mama übt mit mir seit zwei Wochen“ sagt das Kind. „In den Merkworten hab ich ne drei gekriegt“. Da schau mal einer an. Das Kind kam bislang mit fünfen nach Hause, wenn die „Lernworte“ abgefragt wurden. Nun aber wird zu Hause geübt – Mama höchstselbst macht das – und – zack – kommt das Kind stolz mit ner „Drei“ nach Hause. „Die Drei ist die Eins des Kleinen Mannes“ trösteten wir uns in meiner Abiturientenzeit. Erfolge sind wichtig und geben Motivation, deshalb wird diese „Drei“ auch gewürdigt.

Merke: Eltern sind beim lesen Üben und beim Lernen überhaupt unersetzlich. Wir Lese-Paten assistieren und „putzen aus“, wie man so sagt. Aber den eigentlichen Fortschritt macht das Kind, wenn es zu Hause unterstützt wird. Ich bin mir nicht sicher, ob sich wirklich alle Eltern dessen bewusst sind.

Lesen lernen (4). Etwas von der Seele

Lesen lernen (4). Etwas von der Seele

Das Kind war heute wie ausgewechselt. Keine trübe Stimmung, keine Niedergeschlagenheit. Freundlich, aufgeweckt, interessiert. Ich hab mich gewundert. Was war geschehen? Die Aufklärung kam erst ganz zum Schluß.

Wir haben uns heute wieder mit Worten und mit Buchstaben beschäftigt – natürlich, geht es doch darum, das Lesen zu lernen und den Sinn des Gelesenen zu erfassen. Ich wusste von früheren Stunden, dass das Kind mit dem Laut „ch“ nicht wirklich klar kommt. Beim Sprechen schon, beim Schreiben und Lesen jedoch nicht. Also haben wir Worte gesucht, die mit „ch“ enden oder eines enthalten: „Dach“, „wach“, „lachen“ – aber dann schlich sich ein „sprechen“ ein und ein „ich“ und dann wieder ein „suchen“, hui, die Angelegenheit wurde kompliziert. Wann spricht man hart, wann spricht man weich? Wir sprechen vom „Ich-Laut“ (weich) und vom „Ach-Laut“ (hart). Aha. Die selben Buchstaben werden also verschieden ausgesprochen. Wie in „ich“ oder in „ach“.
„Ach“ kenne ich, meint das Kind, als wollte es mal was Entspannendes einwerfen. „Das kenne ich von „ach du Scheiße““. Was sagt man denn dazu. Kinderseelen liegen meist offen wie ein Buch und man erfährt sofort, in was für einem sprachlichen Umfeld das Kind aufwächst. Man hört den „Familienjargon“ oder den „Freundesjargon“.
Jedenfalls haben wir heute das Problem mit dem „ch“ eingekreist: die beiden Buchstaben sind ein Laut und es gibt auch eine Regel, wann der „Ach-Laut“ gesprochen wird, und wann der weiche „Ich-Laut“, aber dazu kommen wir später, man soll ja nicht alles auf einmal mit dem Bade ausschütten.

Dann hat das Kind begonnen zu malen – das gehört inzwischen zur festen Übung, weil man dabei gut zuhören kann. Nicht etwa klein und winzig hat es gemalt, sondern gaaanz groß und mit einer goldenen Krone auf dem Kopf. „Das bin ich!“ Da schau mal einer hin, da hab ich von dem Kind aber schon ganz anderes gesehen: klein, pechschwarz, dunkelwinzig, kaum wahrnehmbar. Und dann hat das Kind unsere Vornamen aufgeschrieben und laut vorgelesen – und dann hat es ein großes Herz drumherum gemalt und auch innen drin noch lauter Herzchen – kurz: ich hab das Kind kaum wiedererkannt.

Die Auflösung des Rätsels der heutigen Stunde kam, als das Kind in die Pause gehen wollte und schon die Türklinke in der Hand hatte.
„Bald ist Wochenende – dann kommt mein Papa!!“

Ach, wie schön.
Merke: wenn es der Kinderseele gut geht, wenn die kleine Kinderseele eine kleine Hoffnung in sich trägt, oder eine Vorfreude oder einen kleinen Erfolg, daß jetzt etwas besser geht als in der vorigen Woche – dann lernt das Kind anders. Es lernt sehr viel besser, um es genauer zu sagen.
Also, Du Erwachsener, versuche, einen Beitrag dazu zu leisten, daß es der Kinderseele gut geht. Sonst wird es schwierig mit dem Lesen.

Lesen lernen (3). Verstehst Du auch, was du da liest?

Lesen lernen (3). Verstehst Du auch, was du da liest?

Wer als Lesepate an einer Schule mithilft weiß: da kann immer mal etwas dazwischenkommen. Da kommt beispielsweise der Schüler nicht, weil die Klassenlehrerin krank ist, weil deshalb ein Vertretungslehrer gekommen ist, der aber nicht gleich alle Vereinbarungen wissen kann. Manchmal ist auch das Kind krank und der Informationsfluss ist nicht so, wie er vielleicht sein könnte. Dann sitzt der Lesepate oder die -patin, wartet zunächst auf das Kind, nimmt sich dann ein Buch oder geht eine Runde spazieren, bis die nächste Förderstunde gekommen ist und andere Kinder erwartet werden.

Sowas ist völlig normal und kann immer mal wieder vorkommen, Menschen sind schließlich keine Automaten.

Viel interessanter ist, was inhaltlich geschieht.
In der letzten Förderstunde las das Kind überraschend gut. Das Kind glaubt aber, es könne „das“ nicht. Nun, schauen wir mal nach, ob „das“ stimmt.

Ich hatte ein einfaches Märchen der Gebrüder Grimm mitgebracht. „Das kennen wir schon, das haben wir schon mal gelesen!“ kam gleich der Spontankommentar. „Ja, das weiß ich. Lass uns den Text aber nochmal lesen, dann fällt er uns bestimmt leichter, wir kennen ihn ja schon.“
Das Kind war einverstanden. Ich merkte schnell, daß es keine rechte Orientierung im Getümmel der Schriftzeichen hatte, die Zeilen „verrutschten“, Worte gerieten durcheinander – also musste ein Blatt Papier her, das wir unter die zu lesende Zeile legen konnten. Ah, na siehste, schon ging die Sache viel leichter vonstatten.
Dann war eine zusätzliche kleine Hilfe nützlich: ein spitzer Bleistift, der auf das zu lesende Wort zeigte – auch das verbesserte den Fluss des Lesens wieder um eine weitere Nuance, die Kinderaugen konnten besser fokussieren, um welche Zeichenansammlung, also, um welches „Wort“ es ging.
Für schwierige Worte hatte ich einen „Leseroboter“ vorbereitet: einen gemalten Klingelknopf, auf den das Kind im Notfall drücken konnte – dann las der „Leseroboter“ das schwierige Wort – ich also. Aber, wir brauchten den gar nicht, denn die Sache lief von ganz alleine recht flüssig. Und nach etwa einer Viertelstunde war die Seite gelesen. Aaaaaaber:

Das Kind verstand gar nicht, was es da eigentlich gelesen hatte!
Wir üben das nach jedem gelesenen Satz: „Kannst Du mir sagen, was wir da gerade gelesen haben?“ Kopfschütteln nach jedem Satz. Das Kind wusste reineweg gar nix.
Also erzählte ich den gelesenen Satz nach, damit das Kind mitbekam, wovon überhaupt die Rede ist. Mir dämmerte langsam, was mir eigentlich längst hätte klar sein müssen:

Da ist ein garstiger Graben zwischen a) dem abstrakten Zeichen auf dem Papier b) dem Klang dieser Zeichen und c) dem Umstand, dass diese Zeichen auch noch eine verflixte Bedeutung haben! Ein gewaltiger Graben tut sich da auf, der schwer zu überwinden ist!
Ich musste bei erfahrenen Pädagogen nachfragen, was da eigentlich in einem Kind, das Lesen lernt, vor sich geht.

„Ja, das ist ein großer Graben zwischen Lesen und Verstehen“ bestätigten mir alle Lehrer, mit denen ich darüber sprach. „Du mußt Dir vor allem eines klar machen: wenn das Kind einem relativ fremden Menschen gegenüber (also Dir als Lesepaten) einen Text liest, dann aktualisiert sich in seiner Emotionswelt alles an Enttäuschungs-Erfahrung, was dieses Kind schonmal erlebt hat. Es bekommt Angst, will auf gar keinen Fall „Fehler machen“, es strengt sich richtig an – und kommt unter enormen Stress, es will auf gar keinen Fall hören, was es schon so oft gehört hat: „Du kannst das nicht“; „Du lernst das nie“, „Was soll bloß aus Dir werden, wenn du nicht mal lesen kannst…..“ All das, was ein Kind, das besonders gefördert werden muss, schon hundertmal gehört hat. Wer aber unter solch enormem Stress liest – der kapiert gar nix. – Das Wichtigste ist also: sorge für Entspannung.“

Guter Tipp! „Sorge für Entspannung“. Das lässt sich einrichten. „Hier gibts keine Zensuren“; „hier sind wir nur ganz für uns und können uns Zeit lassen“; „wir können hier ganz einfach und ganz ohne Druck lesen und wenn mal was nicht gleich gelingt, ist das überhaupt gar kein Problem…..“
Und: „Lass das Kind wirklich kurze Sätze lesen. Das gibt ihm Erfolgserlebnisse – diese Erfolgserlebnisse stärken das Selbstvertrauen und helfen, sich weiter mit dem Lesen zu beschäftigen.“

Guter Tipp! „Verwende zunächst wirklich kurze Sätze“.
So lernen wir uns kennen, das Kind und ich.

„Du wirst sehen – irgendwann, keiner weiß den Zeitpunkt genau – wird das Kind auch verstehen, was es da gelesen hat. Hab Geduld!“

Guter Tipp! „Hab Geduld“. Denn die Aufgabe, abstrakte Zeichen mit Klängen zu verbinden und das alles dann auch noch mit einer Bedeutung zu versehen – das ist wirklich eine gewaltige Aufgabe.
Ich spüre, wie mein Respekt vor den Kindern wächst, die sich mit dieser gewaltigen Aufgabe abplagen. Vielleicht kann ich ihnen ja ein wenig Unterstützung geben, wenn es bergauf geht.

Lesen lernen (3). Vergiss Deinen Plan und höre erst mal zu

Lesen lernen (3). Vergiss Deinen Plan und höre erst mal zu

Natürlich überlege ich mir vor der Übungs-Stunde, was ich mit dem Kind in der Lese-Übungs-Stunde machen könnte, um es zu unterstützen. So langsam kann ich ja die Stellen sehen, die einer Unterstützung bedürfen. Also hatte ich mir überlegt, wir könnten mit einem Spiel beginnen: Einsilbige Worte finden, die ich in Großbuchstaben auf ein Blatt schreibe und die wir anschließend gemeinsam lesen. Dann kommen zweisilbige, dreisilbige und so weiter. Während dieser Übung, bei der wir „Einfälle“ suchen, kann das Kind malen, das macht es gern, wenn es aufgeregt ist. Malen entspannt das Kind, das war schon zu bemerken.
„Kannst Du mir einen Baum malen? Den male ich dann aus“.
Ok, ich male also mit dem Bleistift die Umrisse eines Baumes.

Wir sammeln Worte, das Kind malt – und da liegt das „Thema des Tages“ ganz oben auf:

Beginnen wir ganz rechts: “Oh“ sage ich, als das Kind sagt „guck mal“. „Der Baum ist ja ganz schwarz!“ „Das ist ein Gruselbaum“ erfahre ich. „Und was ist das Kleine gleich daneben?“
„Das ist ein Killer. Das ist der Kettensägenmann“.
„Und neben dem Kettensägenmann, was ist das?“
„Das ist ein Kind. Die Haare gehen so hoch, weil er Angst hat. Der macht so: guck mal“ – und das Kind schließt die Augen und öffnet den Mund ganz weit und sagt dann: „wie bei einem Totenkopf, guck mal, so“ – und malt ganz links in das Bild einen Kopf mit zwei Kreuz-Augen und einem großen Mund – „wie bei einem Totenkopf“.
„Das ist aber ganz schön gruslig“ sage ich. Der große Gruselbaum und der Kettensägemann und das Kind mit der großen Angst – ist auf dem Bild vielleicht auch ein Vogel oder eine Blume?“

„Na gut“ sagt das Kind und malt einen blauen Vogel und eine blaue Blume und erklärt mir dann: „die Blume, die schreit – die ist ein Mensch und eine Blume – alles gleichzeitig. Aber die Blume hat die Zunge so – guck mal“ – das Kind zeigt mir einen Mund mit einer Zunge die an die oberen Zähne anschlägt – „Aber so kann die Blume doch gar nicht sprechen!“ sage ich. „Stimmt“ sagt das Kind. „Die Blume ist ein Mensch und eine Blume – alles gleichzeitig“.

Ich höre zu, versuche aufmerksam zu sein. Dieses Kind ist übervoll mit Angst. „Gestern hat mich einer geschubst und in den Rücken getreten, da bin ich hingefallen und mein Daumen war so – guck mal“. Eine Schramme am Bein gibts auch, wie mir gleich vorgeführt wird. „Tut aber nicht mehr weh“ war der Kommentar.

Da sitzt ein Kind neben mir, das Lesen lernen soll.
Aber die Seele ist mit etwas ganz und gar anderem beschäftigt – mit dem „Gruselbaum“ nämlich und mit dem „Killer“ und mit der „Blume, die ein Mensch ist und alles gleichzeitig.“

Ich höre zu. Ich rede ihm nichts aus. Ich lasse das Kind malen und erzählen. Da muss erst mal etwas „zur Sprache gebracht“ werden. Bevor die Angst nicht gesehen und angenommen wird, lernt das Kind gar nix. Geht ja nicht, wenn die Seele mit etwas anderem beschäftigt ist, das ganz oben auf liegt.

Später - die Stunde ist beinahe herum, wir haben eine Menge Worte gefunden, aufgeschrieben und gelesen, lese ich aus Irina Korschunows „Schulgeschichten“. Ich lese Satz für Satz und frage das Kind, ob das stimmt, was da steht. Ich lese zum Beispiel: „Viele Kinder gehen gern zur Schule. Aber es gibt auch Kinder, die Angst vor der Schule haben.“
„Stimmt das?“ frage ich.
Und das Kind antwortet: „Schule ist Kackwurst!“

Ich merke in dieser Stunde etwas Wichtiges: wenn du einem Kind das Lesen beibringen willst, dann höre zunächst einmal zu, was das Kind dir zu erzählen hat aus seinem Leben. Danach wird es bereiter sein, dir bei den Übungen zu folgen. So war es ja dann auch: wir haben zusammen Wörter gesucht, aufgeschrieben, gelesen. Das ging dann recht flott. Allerdings war die Konzentration nach einer halben Stunde dann auch schon wieder zu Ende, die Batterie der Aufmerksamkeit war schon wieder alle – deshalb gibts immer ein paar vorgelesene Sätze zum Schluss.
Wir werden mit den Bildern weiterarbeiten, denn der erste Satz heute hat mich dazu ermutigt. Wie sagte doch das Kind bei der Begrüßung: „Hast Du mein Bild von der letzten Stunde mit?“ Ja, hab ich.
Mal sehen, was Du beim nächsten Treffen malst, bevor wir lesen.

Ach ja, eins noch: wir suchen dringend nach weiteren Lesepaten. Am besten meldet man sich über die Berliner Lesepaten an, die wissen dann, wie es weitergeht. Lesepaten gibt es auch in anderen Städten.

Lesen lernen (2)

Lesen lernen (2)

Heute nun war die „Kennenlern-Stunde“, ich hab die Kinder zum ersten Mal gesehen. Ich war aufgeregt, doch, das war ich, obwohl es eigentlich keinen Grund gibt, schließlich sind 6 Enkel in der Familie und man hat so seine Erfahrungen miteinander. Man merkt ja schnell, ob man sich sympathisch ist, oder eher nicht; mit Kindern geht das ganz besonders schnell, ob es „klappt“ mit dem Kontakt, oder ob es eher „schwierig“ werden würde. Und selbstverständlich wollte ich, daß wir guten Kontakt finden.

Ich bin jedenfalls sehr viel sicherer wieder nach Hause gefahren: es hat „geklappt“, wir werden miteinander etwas machen können, was den Kindern möglichst hilfreich sein soll.

Erste Stunde also: kennenlernen. Wie geht das? Na, ein paar Fragen stellen zum Beispiel. Und etwas von sich selber erzählen. Der Job des Lese-Paten besteht dann vor allem und zunächst darin, sehr genau zu hören -auch auf die Botschaften „unter“ der gesagten Botschaft.

Da merkt man zum Beispiel eine „Konzentrationsschwierigkeit“. Das Kind wird schon nach 30 Minuten unruhig, steht auf, geht vom Tisch weg, will nicht lesen. Das Kind malt gern, während es einer Geschichte (natürlich wird auch etwas vorgelesen!) zuhört, offenbar malt es, um zu entspannen, Stress abzubauen. Und die Nachfrage: „Du malst gern? Was ist denn dein Lieblingsfach in der Schule?“ „Kunst“ ist die Antwort. Und dann kommt: „Aber ich gehe nicht gerne zur Schule.“

Da also klemmt die Säge und damit werden wir uns natürlich zu beschäftigen haben, denn die Gründe, weshalb das Kind „nicht gern in die Schule geht“, können sehr vielfältig sein. Wenn es aber „nicht gern in die Schule“ geht, wird es auch nicht gern lesen lernen. Wir haben nun verabredet, daß wir jedes Mal, wenn wir uns treffen, an dem heute begonnenen Bild weitermalen, zwischendurch etwas lesen (auch gern mal im Wechsel: jeder einen Satz), dann gibts etwas vorgelesen. Dann lesen wir wieder etwas. Immer im Wechsel. Und das Bildermalen wird uns eine Brücke sein, denn so eine Stunde kann sehr lang sein und wer eigentlich „nicht gern in die Schule“ geht, wird dann schnell unruhig, zappelig, möchte lieber „mit dem Handy spielen, aber das darf man hier ja nicht.“ Nee, besser ist es, das Ding auch mal auszulassen, das stimmt. Aber, wir werden zurecht kommen miteinander, da bin ich sicherer als vorher.

Andere wiederum beginnen damit, dass sie „eigentlich nicht lesen wollen“, signalisieren also Unsicherheit, vielleicht sogar einen Widerstand, dann aber stellt sich heraus, dass es mit dem Lesen eigentlich schon recht ordentlich geht und im Laufe der Stunde stellt sich dann auch heraus, daß es Schwierigkeiten mit den „Lernworten“ gibt. Ok. Da können wir ansetzen und üben helfen. Das Lesen jedenfalls – ich hatte einen sehr einfachen Text von den Gebrüdern Grimm, das Märchen vom „Süßen Brei“ mitgebracht – lief sehr viel besser als befürchtet und es wurde schon bald deutlich, wo der Haken beim Lesen liegt: Umlaute und „Mischlaute“ wie „sch“, „ch“ wie in „Licht“ oder „ch“ wie in „Krach“. Zweimal steht da „ch“ und trotzdem wirds verschieden gesprochen. Knifflige Sache.

So aber kommen wir zueinander. Ich verstehe meine Unterstützung als Lese-Pate so: zunächst einmal sehr genau hinschauen, hinhören, aufmerksam sein – um herauszufinden, wo denn eigentlich das „Leseproblem“ liegt. Und dann üben wir natürlich.
Übrigens gilt: Spaß darf ruhig dabei sein. Wie sagte kürzlich einer der Enkel zu mir: „Mathe kannst du nicht so gut, aber Witze kannste gut.“ Na, wenn das kein Lob ist. Ich freu mich jedenfalls auf die nächste Begegnung in der kommenden Woche. Und ich bin gespannt darauf, wie das mit dem Lesen-Lernen eigentlich genau vonstatten geht.

(p.s.: wer die Beiträge zu meiner Lese-Patenschaft auf einen Blick lesen möchte, kann die neu eingefügte Kategorie „Lesen“ abonnieren, dort jedenfalls werden sie einsortiert.

Anmerkung 2: die Handys übrigens führen nicht dazu, daß Kinder Lesen lernen, eher im Gegenteil. Wie ich heute gelernt habe, verabreden sich Drittklässler zwar per Handy – aber eben nicht mit dem getippten Wort, sondern mit einer VoiceMail. „Mein Handy schreibt den Text, den ich hineinspreche“ sagte mir einer meiner Schützlinge. Deshalb ist es gut und richtig, die Handys in der Schule oder im Lese-Unterricht draußen zu lassen.) Erst muss man die Grundkompetenz wirklich erlernen – dann erst kommt das Handy. Schweden hat deshalb die Digitalisierung an Schulen auch wieder etwas reduziert, man hat bemerkt, daß die Lese- und Schreibkompetenz der SchülerInnen nachließ.

Sommergäste in Heringsdorf 1932. Eine Empfehlung

Sommergäste in Heringsdorf 1932. Eine Empfehlung

Das Manuskript stammt vom jüdischen Autor Salamon Dembitzer.
Dr. Robert Kreibich hat es bei Recherchen über jüdische Spuren zwischen Bansin und Swinemünde eher als „Beifang“, wie er sagt, im Archiv vom Leo-Baeck-Institut gefunden.

Da sich bislang kein Nachfahre fand, der Rechte an dem Buch geltend machen konnte, hat die Evangelische Kirchgemeinde in Gestalt ihres Pastors Dr. Christian Pieritz und mit freundlicher Unterstützung vom Menzel-Verlag Kühlungsborn 90 Jahre nach dem Entstehen des Manuskripts die Initiative ergriffen und das Buch herausgebracht.
Es ist in mehrfacher Hinsicht empfehlenswert: zunächst literarisch. Dembitzer versteht es, seine Zeitgenossen vom Strand in Bansin im Jahre 1932 präzise zu zeichnen. Es ist eine durchaus vergnügliche Lektüre über das Badeleben in Bansin und Heringsdorf Anfang der Dreißiger Jahre.
Dembitzer hat ein ungewöhnliches Leben gelebt, über das im Anhang des Buches Auskunft gegeben wird:
„Salomon Dembitzer, der 1964 in Lugano/Schweiz starb, war …. ein eigenwilliger, kompromissloser Individualist, weitgehend Autodidakt, ein scharfsinniger Psychologe und ein immer mitleidender Mensch. Bereits mit 16 Jahren begann er seine literarische Laufbahn in Kassel. … Seine Gedichte hatten großen Erfolg, sie erschienen vor und nach dem Ersten Weltkrieg in vielen jüdischen und deutschen Zeitungen und der spätere deutsche Reichskanzler Philipp Scheidemann, der zu dieser Zeit Chefredakteur des „Kasseler Volksblatt“ war, nahm sich des jungen Dichters an, der auch den „Dichterpreis der Stadt Kassel“ erhielt. Dembitzer konnte noch rechtzeitig vor den Nationalsozialisten aus Deutschland fliehen. Er ging zuerst nach Holland, dann nach Belgien, dann nach Portugal, nach New York (Anfang 1941). In den fünfziger Jahren erschienen zwei Romane in Australien, einer davon „Die Flucht der Juden aus Europa“ (Arbeitstitel) dürfte eines der allerersten Werke über dieses Thema sein. Dr. Herbert V. Evatt, ehemaliger australischer Außenminister und Vorsitzender der ersten Generalversammlung der UNO (1947) schrieb das Vorwort. Dembitzer starb 1964 in der Schweiz.

Wir sehen: es lohnt sich, sich mit Dembitzer zu beschäftigen, denn sein Leben zeigt die Folgen der Wirrnisse des Zwanzigsten Jahrhunderts wie in einem Brennglas.

Das Buch, um das es hier geht, „Sommergäste in Heringsdorf 1932“ ist noch in anderer Hinsicht interessant. Der Heringsdorfer Ortschronist Heinrich Karstaedt-Drews hat interessantes fotografisches Material zu jener Zeit in Heringsdorf beigesteuert. Wer also auch fotografisch dokumentiert sehen will, wie es zuging in Heringsdorf ein Jahr vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten, wird im Büchlein ebenfalls fündig.

Man bekommt das Buch von Salamon Dembitzer „Sommergäste in Heringsdorf 1932“ unter der ISBN 978-3-946694-07-3 im Buchhandel oder bei der Evangelischen Kirchgemeinde Heringsdorf/Bansin.

Lesen lernen. Lese-Pate werden. (1)

Lesen lernen. Lese-Pate werden. (1)

Die letzte PISA-Studie hat gezeigt: die Lesekompetenz deutscher Schülerinnen und Schüler hat weiter nachgelassen. Wer aber nicht richtig lesen kann – und versteht, was er liest – der ist im Nachteil in allen anderen Bereichen. Lesen ist eine ganz zentrale „Grundkompetenz“. Wenn es da hapert, hapert es woanders auch.

Weshalb ich mich bei den Berliner Lesepaten gemeldet habe, um ein wenig zu helfen, daß Kinder, denen das Lesen aus verschiedensten Gründen nicht leicht fällt, Unterstützung bekommen. Der Kontakt kam – via Email – sehr schnell zustande, noch vor Weihnachten hatte ich das Große Polizeiliche Führungszeugnis im Briefkasten (man beantragt es beim Bürgeramt, die Kosten für die Lesepaten übernimmt das Amt), eine für mich passende Schule war ausgewählt und ein erster Kontakt zur Schule hergestellt.

Heute nun war ich zum ersten Mal in der Feldmark-Schule im Norden Lichtenbergs im ehemaligen barnimschen Dörfchen Falkenberg, das mittlerweile ein gewaltiges Neubaugebiet geworden ist. Hochhäuser, Neubaublocks, wohin man schaut, ich kann bequem mit der Straßenbahn dorthin fahren.

Die Feldmark-Schule liegt nicht mitten im Wohngebiet, sondern recht hübsch ganz am Rand der Falkenberger Krugwiesen, einem Naturschutzgebiet am Rande der Stadt. Man kann von hier aus sehr angenehm mit dem Rade nach Brandenburg hinein radeln, der Barnim beginnt hier und die Uckermark ist auch nicht weit.

Frau Schock ist an der Feldmark-Grundschule die Koordinatorin für die Berliner Lesepaten, sie war vor Jahren als Journalistin u.a. für die „Deutsche Welle“ unterwegs, wollte dann aber, wie sie mir sagte, „nochmal etwas Sinnvolles tun“ und hat sich als Seiteneinsteigerin für den Schuldienst gemeldet. Jetzt kümmert sie sich um die Lese-Paten. Ich frage sie, wie eine Schule an die Paten „herankommt“. „Das ist gar nicht so einfach“ sagt sie, „die Schule muss sich bewerben und der Bedarf ist sehr viel größer, als er im Moment gedeckt werden kann. Sie werden bald merken, was los ist.“

Das gilt auch für die Feldmark-Schule. Im Moment helfen drei Lese-Paten (jeweils für mehrere Kinder) – aber: „Wir könnten sehr viel mehr gebrauchen“, sagt Frau Schock.

Ich verabrede mit ihr, über meine Erfahrungen mit der Lese-Patenschaft zu schreiben. Damit noch andere ermutigt werden, „nochmal etwas Sinnvolles zu tun“ – und Lesepate werden. Für mich geht es am kommenden Dienstag los. Ich werde drei Kinder aus einer Zweiten und einer Dritten Klasse kennenlernen. Und dann schauen wir mal, ob wir gemeinsam was Gutes gebacken bekommen.

Übrigens: wer Lesepate werden möchte – zum Beispiel an der Feldmark-Grundschule in Falkenberg, der kann sich – über die Homepage der Schule – direkt an Frau Schock wenden. Sie regelt dann alles Weitere.

Dr. Hans Beu – Prerow.

Dr. Hans Beu – Prerow.

Zwei Jahre Pause bei den Recherchen. Corona kam dazwischen. Nun aber soll es weiter gehen. Etliches Material habe ich bereits zusammengetragen, Fotos, Dokumente, habe neue Gesprächspartner gefunden. So ganz allmählich zeichnet sich ab, was da werden könnte.
1. Eine Kindheit in Ribnitz (22. Januar 1865*)

2. ein Medizin-Studium in Rostock

3. Promotion in Leipzig (1890) und Assistenzarzt im Bürgerhospital Stuttgart

4. Praktischer Arzt in Gnoien (1891)

5. Hochzeit in Rostock (8.4.1892) mit Anna Maria Welge, die aber schon 1896 starb und drei Töchter hinterließ.

6. Praktischer Arzt in Dargun (1892)

7. 1897 ist Beu Einwohner von Prerow

9. zweite Hochzeit 1903 in Prerow mit einer Tochter der Kapitänsfamilie Schall aus Born.

10. Eröffnung des Kindersanatoriums in Prerow (1905)

11. Erster Weltkrieg und die Arbeit als Kinderarzt

12. Weimarer Republik in Prerow

13. Prerow unter den Nazis (1933 – 45)

14. Kriegsende 1945

11. Tod in Prerow (7. August 1947 im Alter von 82 Jahren).

So in etwa könnten die Recherche-Stationen liegen. Nun will ich sehen, wie ich diese einzelnen Abschnitte mit Dokumenten, Fotos, Aufzeichnungen, Erinnerungen anfüllen kann. Die Leitfrage wird sein: wer war dieser Kinderarzt, der während der Nazizeit in seinem Kinderheim mindestens ein jüdisches Kind versteckt hat ? Was hat ihn geprägt? Welche Überzeugung hat ihn ausgezeichnet? Wir werden auch auf die politischen Ereignisse eingehen müssen, denn die waren (von 1870 über die Kaiserzeit, Ersten Weltkrieg, Depression, Weimarer Republik, Naziherrschaft, Deutsche Teilung) allesamt tief einschneidend und Dr. Beu musste sich dazu verhalten. Gleich „nebenan“ in Born residierte ab 1924 der spätere SS-Generalmajor Franz Mueller-Darss – und wiederum gleich „nebenan“, in Zingst, arbeitete 1934 Dietrich Bonhoeffer. Größte politische Spannungen auf engstem Raum zwischen den Dörfern des Darss. Das ist das Spannungsfeld, in dem Dr. Hans Beu sein Kindersanatorium betrieben hat und ich will möglichst genau wissen, wie das ging, ohne sich den Nazis anzudienen. Denn darauf gibt es beim jetzigen Stand der Recherchen schon Hinweise: Beu hat sein privates Sanatorium nicht dem nationalsozialistischen Verband der Privatkliniken und Sanatorien angliedern lassen.
(das Titelbild zeigt Dr. Hans Beu bei seiner Silberhochzeit mit seiner zweiten Frau Louise, geb. Schall. Das Foto stammt aus dem Privatarchiv U.Herrmann, Bremen).